„Das Starten von der Rampe, die professionelle Atmosphäre, die voll gesperrten Straßen, die Stimmung an der Strecke und im Zielbereich – das lässt einen selbst mit 40 Jahren nicht kalt“, schwärmt Kai-Henrik Günther nach seiner Teilnahme an den Deutschen Meisterschaften. Insgesamt seien die Titelkämpfe im Einzelzeitfahren eine „überaus tolle Erfahrung“ gewesen, bilanziert der Tusporaner. Das gilt umso mehr, als der Zeitfahrspezialist am Ende den 19. Platz unter 24 Startern belegte und damit seine Erwartungen deutlich übertreffen konnte.
Und das wohlgemerkt, obwohl er in der letzten von drei Runden mit angezogener Handbremse gefahren sei: Denn nachdem die ersten beiden Runden auf dem 15 Kilometer langen und welligen Kurs gut verlaufen waren, sorgten in der dritten und letzten Runde Unwetter für eine mentale Blockade: „Windböen haben mir auf der einen längeren Abfahrt, die man zuvor mit bis zu 70 km/h runtergeflogen ist, richtig zugesetzt. Kurz zuvor war es in Baunatal zudem zu einem Beinahesturz gekommen: Mir ist auf auf der nassen Straße in einer Kurve, die ich schon deutlich sachter und in den Hörnern angefahren bin, bei 45 km/h das Hinterrad weggegangen. Das war wirklich haarscharf“, blickt Kai auf dramatische Situationen zurück. In der Folge habe er dementsprechend vor allem in den Kurven Vorsicht walten lassen.
Nicht zuletzt, weil andere Teilnehmer sicherlich mit ähnlichen Problemen zu kämpfen hatten, bleibt Kai im Hinblick auf seine Platzierung Realist: „Viel mehr hätte ich trotz aller Widrigkeiten nicht herausholen können“, sagt er.
Die kritische Analyse des Wettkampfes lässt fast die Tatsache vergessen, dass Kai insgesamt eine hervorragende Leistung auf den Asphalt gebracht hat: Immerhin schaffte er es, nach 45 Kilometern fünf Starter hinter sich zu lassen und somit sein Ziel, „nicht Letzter zu werden“, souverän zu erreichen. Und vor allen Dingen hat er mit seiner DM-Teilnahme Mut bewiesen. Nicht nur, weil einige andere Fahrer bei den Bedingungen ihren Start abgesagt haben. Sondern auch, weil man sich bei keiner anderen Radsport-Disziplin weniger verstecken kann als beim Einzelzeitfahren – und dementsprechend nirgendwo sonst Leistungsunterschiede deutlicher zu Tage treten als im Kampf gegen die Uhr. Kai hat Mut bewiesen, an den Start zu gehen – und wurde nicht nur durch sein Ergebnis belohnt, sondern auch dadurch, noch froheren Mutes in die Zukunft blicken zu können.
„Ich weiß jetzt, dass meine Zielvorgabe zu vorsichtig war“, verdeutlicht Kai, und betont: „Das Ganze macht Lust auf mehr. Ich habe Blut geleckt.“
Ferner machte der 40-Jährige die Erfahrungen in Baunatal zu wertvollen Erfahrungen, indem er nach dem Rennen über die Gründe für seinen Fast-Sturz grübelte: „10 Bar Luftdruck. Ein gut abgelagerter Schlauchreifen, der bei nasser Straße überhaupt nicht mehr haftete, wie ich auch nach meinem Beinahe-Sturz noch ein paar Mal zu spüren meinte. Aber warum war es eigentlich das Hinterrad, das wegrutschte, und nicht – wie eigentlich üblich – das Vorderrad?“ Schlussendlich musste Kai realisieren, dass der gut abgehangene – und wohlgemerkt hintere – Schlauchreifen dafür verantworlich gewesen war, dass er beinahe eine unliebsame Begegnung mit dem Asphalt gemacht hätte.
Nach der akribischen Reflektion sieht er seine Materialausstattung bei der DM inzwischen durchaus kritisch: „Hätte ich nochmals in den Regenradar geschaut, hätte ich einerseits wenigstens den Luftdruck anpassen können; andererseits mögen abgelagerte Reifen leicht rollen, sind aber nur fürs Geradeausfahren zu gebrauchen“, sagt Kai, der schlussfolgert: „Es wäre, wenn ich alle Eventualitäten mit eingeschlossen hätte, ein neuer Reifen angesagt gewesen.“
In Bezug auf die Beschreibung seiner Gefühlswelt während des Rennens findet er ganz passend zur aktuellen Fußball-WM einen Vergleich zum Volkssport Nummer eins: „Im Wettkampf war ich nach der Negativ-Aktion mit den Nerven völlig runter. Das ist dann so, als läge man beim Fußball 0:3 zurück; man gibt dann auf, macht nur noch so vor sich hin und verliert im Zweifelsfall noch 0:6.“
Vielleicht will er sich auch deshalb in Zukunft weiterhin seiner Lieblingsdisziplin stellen. Seine 40 Jahre sind per se definitiv kein Grund, es nicht noch einmal bei den nationalen Titelkämpfen zu versuchen. Dies stellte in Baunatal ein anderer DM-Teilnehmer eindrucksvoll unter Beweis: Lars Teutenburg wurde als 43-Jähriger hinter Tony Martin und Nikias Arndt Dritter.
Die Tatsache, dass Kai darauf verweist, dass die nächste Deutsche Meisterschaft 2015 voraussichtlich in Chemnitz ausgetragen wird, darf vermutlich als subtile Kampfansage verstanden werden. Zwar müsste er sich abermals über den Sieg bei den Landesmeisterschaften qualifizieren. Dazu motiviert sein dürfte der Tusporaner aber allemal. Nicht nur, weil er, wie er selbst sagt, „Blut geleckt“ habe. Sondern auch, weil ihm bei den Deutschen Meisterschaften eine Startrampe, professionelle Atmosphäre und voll gesperrte Straßen garantiert wären…
Von Timo